Der Schweizer Komponist Hans Wüthrich (1937-2019), einer meiner geschätzten Lehrer, erdachte 1979 das Konzept „Die singende Schnecke – Anweisungen zum imaginären Hören“. Es geht hierbei darum, durch Imagination Klänge zu real hörbaren akustischen Ereignissen hinzuzufügen. Bei einem Spaziergang oder beim Anhören einer Feldaufnahme, aber auch zu komponierter oder improvisierter Musik. Hans Wüthrich beschreibt das Phänomen, dass Aktivität in der Cochlea auch allein durch solche Imagination entstehen kann, also tatsächlich eine Klangerzeugung (oder besser deren Simulation) möglich ist, ohne dass ein Klang von außen vorhanden sein muss.

Er schlägt weiter vor, dass einem Publikum Anweisungen/Anregungen in Textform gegeben werden können, um die Imagination anzustoßen. Einige Beispiele:

Stelle dir etwas vor, das ganz leise beginnt, dann immer lauter und lauter wird, bis es die reale akustische Umgebung völlig übertönt.

oder

Bevölkere deine akustische Umgebung mit innerlich gehörten menschlichen Äusserungen aller Art: verschiedenste Arten lachen, Wimmern, Schimpfen, Schreien usw.

oder

Lass die Umweltgeräusche mit dem inneren Ohr wattig, mulmig und stumpf werden … dann hart, eckig, aufdringlich …

Natürlich ist all das auch direkt im Alltag und alleine umsetzbar, es werden im Konzept ich etliche weitere Anregungen gegeben. Das Konzept sollte viel öfter realisiert werden: weder richtet es sich nur an Musiker*innen, noch ist es an die Konzertsituation gebunden und kann sehr einfach umgesetzt werden. Meiner Meinung nach gehört dieses Konzept zu den besonders gelungenen Beispielen aus den späten 70er Jahren, Hans Wüthrich war einer der originellsten Schweizer Komponisten, der nicht in Vergessenheit geraten sollte.

Hans Wüthrich
Die singende Schnecke [The Singing Snail]
Ein Konzept [A Concept]
Anweisungen zum imaginären Hören

I. Das Vorgegebene [The Actuality]
II. Das projizierende Hören [Projective Hearing]
III. Beispiele für verbale Anweisungen [Examples for Verbal lnstructions]

1979

TME 0602

ISBN 3 -937087-00-1

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